U.v.Beckerath,
...
2.7.1949.
Lieber
Herr Dr. Runge,
vielleicht haben Sie in Ihren
Zeitungen gelesen, dass der erste nach dem Streik hier einlaufende
Interzonenzug gleich "versehentlich" in den russischen Sektor
geleitet wurde, worauf dann die Russen die Post beschlagnahmten. Rueckgabe
wird, wie die zustaendige russische Stelle mittelte, "geprueft". Es
ergibt sich aus dem Vorfall zweierlei:
1. Die
fuer West-Berlin bestimmte Post wird nicht, wie vor ein paar Tagen
bekannt gegeben wurde, per Flugzeug befoerdert, sondern sie geht - genau wie
frueher - per Bahn;
2. Die
Russen sind immer noch sehr scharf auf Post aus dem Westen, und wenn sie eine
Gelegenheit haben, sie zu konfiszieren, dann tun sie's.
Die
West-Post, und zwar die Berliner Post sowohl als die Zonen-Post, sollten
versuchen, den hier kursierenden Geruechten entgegenzutreten, dass einfach eine
Bestechung der Post durch die Russen vorlaege, und dass auch die angeblichen,
seit vielen Monaten bestandenen "Schwierigkeiten", von den taeglich
per Flugzeug nach Berlin gebrachten 6000 bis 7000 Tonnen doch wenigstens den
tausendsten Teil fuer die Post zu reservieren (mehr waere nicht noetig) auf
Bestechungen durch die Russen zurueckzufuehren sind. Jedenfalls: wenn Sie Wert
darauf legen, Ihre Briefe nicht durch die russische Zensur gehen zu lassen, so
muessten Sie sie nach wie vor per Luftpost schicken. Was ich Ihnen ueber die
Transport-Reform geschrieben hatte war eben Quatsch und beruhte auf
Leichtglaeubigkeit in amtliche Bekanntmachungen.
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Giralgeld. Angenommen, eine Weberei kauft Garn und
bezahlt es mit einem Wechsel.
Dann verkauft die Weberei
Gewebe und erhaelt als einen Teil der ihr zustehenden Zahlungsmittel ihren
eignen Wechsel. Ist das - - dem Wesen nach - - eine Zahlung mit
"Giralgeld"? Im Rheinland ist es heute noch ueblich (bzw. war es vor
dem Kriege - - wie es seit 1945 ist, weiss ich nicht).
Waren moeglichst mit Wechseln
und andern Verpflichtungsscheinen der Warenbesitzer zu bezahlen, ausgeklagte
Forderungen gegen den Warenbesitzer nicht ausgeschlossen. Solche
"Zahlungsmittel" sind manchmal ganz billig zu haben, einfach, weil
der Warenbesitzer als "fauler Kopp" gilt. Der
Durchschnittsgeschaeftsmann erkennt nicht, dass der Warenbesitzer gar nicht
faul waere, wenn er alles per Verrechnung bezahlen duerfte.
Ich habe Grund zu vermuten,
dass der als Reichsfinanzminister von 1849 mal kurze Zeit beruehmt gewesene
Bankier aus meiner Familie sein grosses Vermoegen u.a. auch dadurch erworben
hat, dass er in der hier angedeuteten Weise Verrechnungen durchfuehrte. (Eine
seiner Finanzregeln war auch: Nie Glaeubiger in einem Lande werden, wo das
Papiergeld Zwangskurs hat!) Die Krefelder Seidenindustrie - - nebenbei auch von
Leuten aus meiner Familie geschaffen - - (Kant lehrt: sich etwas einbilden auf
Handlungen, die man nicht selbst ausgefuehrt hat, ist nicht nur unmoralisch,
sondern auch noch bloed dazu):
Bei den engen Beziehungen
zwischen dem Bankhaus Beckerath-Heilmann und der Seidenindustrie ist es sehr
wahrscheinlich so gewesen, dass die Fabriken nur noch Geld fuer Loehne
heranzuschaffen hatten, im uebrigen aber verrechnen durften. Das gab ihnen ein
grosses Uebergewicht ueber manche Konkurrenz.
Und wie steht es mit dem von den Banken geschaffenen Giralgeld?
Man begruendet bei der Bank ein Guthaben, formell taeglich kuendbar. Man
verspricht der Bank, seine Forderungen bei ihr zahlbar zu machen. Die Bank
verspricht, die ihr namhaft gemachten Schulden des Kontoinhabers bei
Faelligkeit aus dem Guthaben zu zahlen. Und nun geht's los: Taeglich werden bei
der Bank Betraege kompensiert, die ein Vielfaches der Guthaben ausmachen. Die
Spitzen werden bei der Reichsbank kompensiert, und wenn wirklich mal ein
kleiner Betrag nicht gleich am naechsten Tage durch Kompensation verschwindet,
dann erteilt die Reichsbank doch Gutschrift.
Sollte wirklich mal das durch
diese Gutschrift entstandene Guthaben in bar abgehoben werden, dann
inflationiert die Reichsbank halt mal ein bisschen. Die Noten liegen schon in
ihren Kellern. (Der betr. Betrag ist stets sehr hoch, viel hoeher als der
Betrag des umlaufenden Geldes.)
Man muss zugeben, dass diese Inflation wegen der Art
ihrer Entstehung, der Kuerze der Zeit, waehrend welcher sie andauerte und der
Beschaffenheit der oekonomischen Sphaere, innerhalb welcher sie stattfand, nur
formell eine Inflation war, aber keine der bekannten, oekonomischen,
inflatorischen Auswirkungen hatte. Warum nicht? Aus dem gleichen Grunde, aus
dem ein Theater, das 1000 Plaetze hat, sehr wohl 1001 Eintrittskartenverkaufen
kann, denn unter den 1000 vorher verkauften Karten sind immer einige, und ist
zum mindesten eine, die nicht beansprucht wird, so dass der Kaeufer der
1001-sten Karte doch einen Platz bekommt. 1010 Karten zu verkaufen kann
aber schon ueble Szenen am Schalter bewirken.
Alles das in Betracht gezogen, muss man weiter zugeben, dass
das System doch allerlei Sicherheit bot, und dass die Vollmacht der Reichsbank,
schlimmstenfalls mal ein bisschen zu inflationieren, die Volkswirtschaft
praktisch von der Menge des taeglich kuendbar gemachten
("eigentlichen") Giralgeldes unabhaengig machte, - - eine grosse
Sache! Voraussetzung war nur, dass das System mit Vernunft und Sachkenntnis
gehandhabt wurde. But here lies the rub.
Mit dem System ist es so aehnlich wie mit der Dritteldeckung
von on demand einloesbaren Banknoten. Das kann Jahrzehntelang gut gehen.
Wenn es dann aber mal versagt, dann ist es, als ob man mit einem
Dampfkessel zu tun haette, der kein Sicherheitsventil hat. Natuerlich - - theoretisch
braucht man keins. Es genuegt ja, theoretisch, dass der Heizer
"vorsichtig" ist, und den Kessel nicht ueberheizt. Das kann
lange gut gehen.
Die Menschen, denen das System anvertraut ist, sind
Durchschnittsmenschen und haben nicht mehr Vernunft und Sachkenntnis, als
Durchschnittsmenschen eben haben. Leute, wie der Reichsbankpraesident Koch
begriffen das System. Die Nachfolger glaubten es nur begriffen zu haben, weil
sie taeglich damit zu tun hatten. Das ist so, als wenn ein Durchschnittsmensch
glaubt, das Wesen der Elektrizitaet begriffen zu haben, weil er taeglich
mehrmals auf den Knopf einer elektrischen Klingel drueckt, oder er
telephoniert. "Elektrizitaet ist: wenn's klingelt, nachdem man auf den
Knopf gedrueckt hat." "Elektrizitaet ist aber auch - - man darf nicht
einseitig sein - - wenn der Mensch am andern Ende der Strippe versteht, was man
in den Hoerer hineingequasselt hat." Praxis, Praxis!!!
Das System ist unmoeglich aus dem gleichen Grunde, aus dem ein
Bock als Waechter eines Kohlfeldes unmoeglich ist. Es muss ein ganz neues
Moment eingefuehrt werden:
Die Annahmebereitschaft
derjenigen, die Gegenstaende taeglichen Bedarfs zum Verkauf bereit haben. (Dazu
noch die Annahmebereitschaft der Glaeubiger: Fiskus, Arbeiter, Hausbesitzer,
etc.) Die rechte Wuerdigung dieses Momentes erfordert eine ganz neue
Theorie.
Der einzige Mensch in Deutschland, der diese Theorie
beherrscht, ist - - wenn ich von mir kleinem Schreiberlein mal absehe - -
Rittershausen. In England hat sie mal einer beherrscht, naemlich Zander. Der
macht aber jetzt in juedischern Nationalismus, und alles andere ist ihm
uninteressant geworden. Die vielleicht sonst in der Welt noch Lebenden, welche
die Theorie beherrschen, sind mir nicht bekannt.
Ganz intus hatte die Theorie Unger, und wenn der nicht in
Auschwitz - - oder wo's war - - ermordet
worden waere, dann haette die Theorie einen weiteren Champion groessten
Formates. Unger hatte die Theorie vom Standpunkt des Kempinski-Betriebes aus
geprueft und sich da ganz hineingearbeitet.
Mit
bestem Gruss
Ihr
gez.:
U.v.Beckerath.
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First published in: Ulrich von
Beckerath: Zur Freiheit, zum Frieden und zur Gerechtigkeit; Gesammelte Briefe,
Papiere, Notizen, Besprechungen. PEACE PLANS 439 (Mikrofiche), Berrima,
Australia, 1983. Pages 1361-1362.